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Irit Amiel : Gezeichnete – Geschichten vom Überleben

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Wenn Sie in diesem Jahr nur ein Buch zu lesen beabsichtigen, dann lesen Sie dieses. Irit Amiel wurde 1931 in Polen als Irena Librowicz geboren. 1947 gelangte sie nach Palästina und lebt seitdem als Autorin und Übersetzerin in Israel. Als Überlebende hat sie Geschichten vom Überleben gesammelt und aufgeschrieben, die Zeugnis ablegen davon, welch unaussprechliche Last und welch lebenslangen Schmerz das Überleben für diejenigen bedeutet haben musste, denen es – um den Preis für immer von den Eltern, Geschwistern, Großeltern und Verwandten getrennt zu werden, oft ohne sich auch nur verabschieden zu können – zwar gelang der Ermordung in den Lagern zu entgehen und mit dem nackten Leben davon zu kommen; denen es aber nicht gelingen konnte, jemals im eigenen Leben wieder heimisch zu werden. So wie die Erzählerin der Geschichte Eine Seite aus dem Tagebuch, deren Eltern es gelingt, sie als elfjähriges Mädchen aus dem Ghetto von Częstochowa zu schaffen, selbst aber zurückzubleiben, was den sicheren Tod bedeutete. Wir gestatten uns, an dieser Stelle eine längere Passage aus dieser Erzählung zu zitieren:

„An das schwere Tor des Krankenhauses gepresst, schlugen wir verzweifelt mit geballten Fäusten an das Tor mit der letzten Kraft, die uns verblieben war. Ein jüdischer Polizist, ein Bekannter Vaters, öffnete einen schmalen Spalt, und wir schlüpften in den Hof. Vater reichte ihm ein Bündel grüner Geldscheine. Von diesem Augenblick ging alles sehr schnell. Zu schnell. Er führte uns in einen dunklen Schuppen, zündete eine Laterne an und zog aus der glatten Wand ein Brett und dann ein zweites. Ein schwarzes Loch zeigte sich in der Wand. Vater hob mich hoch und sagte ich solle die Hände ausstrecken, wie beim Schwimmen, und schob mich kopfüber in das Loch. Aber die Öffnung war zu eng, und ich musste rasch den Mantel ausziehen und wieder den Kopf und die Hände in das schwarze Loch stecken. Ich war fassungslos. Ich konnte mich nicht einmal von ihm verabschieden. Ich erinnere mich nur, dass er sehr bleich war, und um seinen Mund zuckte etwas zwischen einem Lächeln und einem Weinen. (…)

So verließ ich das Ghetto zum ersten Mal, mitten in der Aktion. Meine Kindheit, mein Barett, der Schal, meine schöne Mutter und mein kahlköpfiger, geliebter Vater blieben für immer auf der anderen Seite. Ich war damals elf Jahre alt, und seit diesem Augenblick fühle ich mich im Leben nirgends mehr zuhause.“

 

Irit Amiel: Gezeichnete. Geschichten vom Überleben, Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag,  171 Seiten geb., 21,95 EUR.


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